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Einblick

Irmgard Bertsch-Ehrat (72 Jahre) aus Ludwigsburg

Irmgard Bertsch-Ehrat

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In diesen Tagen mischen sich Entsetzen über den Krieg in der Ukraine mit der Angst vor den Folgen der Krisen bei uns daheim. Mit den Zeitzeugnissen erfahren wir, wie die Generation vor uns, vor rund achtzig Jahren, den Krieg und seine Folgen und seine Auswirkungen erlebt und bewältigt hat. Diese Erfahrungen haben ja auch Auswirkungen auf uns, die Nachgeborenen, auf unsere Erziehung, auf unsere Werte, auf unser Handeln. In vielen Bereichen "geht uns ein Licht auf", Vieles verstehen wir in unserer eigenen Geschichte besser. Die "Geschichten hinter der Geschichte"  sind eine wertvolle und unbezahlbare Bereicherung und Ermutigung. Jetzt ist genau die richtige Zeit, sich zu erinnern und zu sagen: "Wir schaffen auch das!" 
Irmgard Bertsch-Ehrat, 1. April 2022

„Oh, meine lieben Kinder!“
Aus dem Leben einer Saulgauer Soldatenmutter

Irmgard Bertsch-Ehrat lässt ihre Großmutter Karoline Ehrat aus ihrem Leben erzählen
 

1942 – unser Schicksalsjahr

Julius, unser ältester Sohn, war als Soldat in Russland. Robert, unser Zweitältester, wurde Ende Juni in Russland schwer verwundet. Friedrich, unser jüngster Sohn, ist am 20. August gefallen.
Und mein Mann Michael war im Juli wegen einer aus Gutmütigkeit begangenen Lappalie von einem gnadenlosen NS-Richter ins Zuchthaus gebracht worden.
Auch unsere Töchter Maria und Martha hatten um ihren Verlobten und um ihren Freund zu bangen.

Was haben wir alles bis dahin erlebt?

1880 wurde ich als viertes von fünf Kindern in Sigmaringen geboren. Mein Vater verstarb schon im Alter von 39 Jahren, deshalb mussten wir Kinder alle schon früh zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Schon mit 14 Jahren war ich „in Stellung“ in einem Haushalt. Als ich 18 war, bekam ich auf Vermittlung der fürstlichen Familie die Chance, nach Paris zu einer adligen Familie als Gouvernante zu kommen. Ohne jegliche Sprachkenntnisse bin ich mit dem Zug dorthin gefahren. Hier gefiel es mir so gut, dass ich zehn Jahre lang blieb. 1910 lernte ich bei einem Heimaturlaub den jungen Schreinermeister Michael Ehrat kennen. Wir heirateten und er gründete eine eigene Schreinerei in Saulgau, in der Sternstraße 14. Das sollte auch die Heimat der größer werdenden Familie werden. Aber bald kamen dunkle Schatten!

Mein Mann Michael musste schon im Ersten Weltkrieg als Soldat an die Front in Frankreich. Auch während der Geburt unseres vierten Kindes Maria musste er dort bleiben. Ich erinnere mich, dass ich mit den Kindern beim Rosenkranzbeten an der Scheunenwand saß und dass wir dort manchmal sogar die Erschütterungen des Geschützdonners von der Front am Hartmannsweiler Kopf spürten, wo er war.

Michael kehrte verletzt, aber lebend zurück. Nach dem Krieg machten uns die Wirtschaftskrise, die Inflation und das dadurch stagnierende Geschäft Sorgen. Unsere – nach der Geburt von Martha – fünf Kinder jedoch waren unsere große Freude und unser Stolz. Alle waren gute Schüler und erlernten gute Berufe.

Maria, Fritz, Julius und Robert

Aber 1939 begann wieder der Krieg. Die Söhne Julius, Robert und Friedrich wurden als Soldaten eingezogen. Jetzt kam die Sorge um unsere Buben im Felde dazu. Julius und Friedrich mussten im Krieg zuerst gegen Frankreich kämpfen. Ausgerechnet gegen mein geliebtes Frankreich, wo ich so gute Jahre verbracht hatte, gegen das Land, das ich auf den Ferienreisen mit meiner Herrschaft kennenlernen durfte. In bester Erinnerung hatte ich doch meinen Sohn Robert nach einem Kind aus meiner Pariser Familie benannt und auch selbst diese schöne Sprache meinen Kindern beigebracht.

Die schlimme Wirtschaftslage hatte Michael gezwungen,1936 seine Schreinerei schweren Herzens aufzugeben. Mit einer Anstellung in der Maschinenfabrik Bautz reichte es knapp für das Allernötigste. Aber schon 1940 wurde er dort entlassen, denn bei Bautz waren jetzt billige Zwangsarbeiter beschäftigt. Mein Mann Michael war jetzt schon 60 Jahre alt und zum ersten Mal arbeitslos. In seiner Not nahm er eine Beschäftigung als ungelernte Aushilfe im Kriegswirtschaftsamt an. Jede Person konnte höchstens so viele Lebensmittel oder Kleidungsstücke kaufen, wie sie durch Marken auf der Lebensmittel- oder Kleiderkarte nachweisen konnte. Auch die Händler konnten nur mit den von den Kunden abgegebenen Marken neue Ware besorgen. Es war ein kompliziertes System und Michael musste für die Ausgabe und Abrechnung dieser Marken im Wirtschaftsamt sorgen.

Wie schon in seiner Schreinerei, so arbeitete er auch hier sehr präzise und gewissenhaft. Damit auch alles ganz genau stimmte, nahm er oft abends die Marken mit nach Hause, zählte nach, rechnete, tabellierte und ordnete oft bis in die Nacht, sodass er von uns in der Familie schon als „Markenminister“ tituliert wurde!

Unglücklicherweise wurde ihm das trotzdem zum Verhängnis. Immer wieder kam nämlich ins Amt ein Händler aus der Umgebung und schilderte seine Not, dass ihm ein paar Marken fehlen würden, um eine bestimmte Ware kaufen zu können. Aus Mitleid und Gutmütigkeit attestierte Michael ihm als Vorschuss einige Marken, die dieser versprach, am Folgetag zu bringen. Und schon schnappte die Falle zu und der gnadenlose Richter verurteilte ihn wegen „Verbrechen gegen die Volksgemeinschaft“ zu zwei Jahren Gefängnis. Mir war sehr klar, was das für ihn als überaus pflichtbewussten Menschen und als angesehenen Schreinermeister bedeutet hat, zwei Jahre im Saulgauer Gefängnis zu sitzen.

Ein kleiner Trost waren die vielen Beweise der Sympathie und des Mitgefühls von der Saulgauer Stadtbevölkerung. Später wurde in der Familie nie darüber geredet, aber ich habe die vollständigen Prozessakten aufbewahrt. Wir haben auch das nie ganz verwunden.

Sommer 1942 – Das Verhängnis spitzt sich zu

Robert war als Unteroffizier Truppführer einer Gruppe von Kameraden aus der oberschwäbischen Heimat. Ende Juni 1942 wurde er an der Front bei Kursk durch einen Schulter- und Ellbogendurchschuss schwer verwundet. Nach einer ersten Behandlung im Feldlazarett erreichte er im August 1942 nach langer gefährlicher und wiederholt unter Beschuss liegender Fahrt im Güterzug das Lazarett in Warschau. Danach wurde er schließlich ins Heimatlazarett Riedlingen verlegt.

In diesen Tagen hat auch Fritz noch einen langen Brief geschrieben, es sollte sein letzter Brief sein.

Schon kurz danach aber haben wir aus Russland von der Wolchow-Front bei Demjansk die traurige Nachricht erhalten, dass Friedrich dort seinen schweren Verwundungen aus einer Rettungsaktion für seinen jüngsten Kameraden erlegen ist.

Mit dem folgenden Brief habe ich das auch Julius mitgeteilt, der im Feld war:

Lieber guter Sohn!

Heute Morgen erhielten wir die tieftraurige Nachricht, dass unser lieber guter Fritz seiner Verwundung erlegen ist. Er wurde am 20. August auf dem Friedhof in Utschno in allen Ehren beigesetzt. Der Oberst machte auch Mitteilung. O meine lieben Kinder, ich tröste mich in dem Gedanken, dass er drüben im Jenseits Ruhe und Frieden gefunden hat nach den vielen Kämpfen und Strapazen dieses mühevollen Erdenlebens und der Schmerz um den über alles geliebten Vater blieb ihm erspart. Maria und Martha sind heute Mittag nach Riedlingen um Robert zu verständigen. Wie leid es mir immer ist um Euch meine lieben Kinder und um den lieben guten Vater. Jeden Tag bekommen wir neue Beweise der Anteilnahme für den Vater.

Für heute viele Grüße von Deiner Mutter

 

Heldenrequiem am Dienstag, 15. September 1942, vormittags um 8 Uhr in der Stadtpfarrkirche in Saulgau

Nachwort der Enkelin Irmgard Bertsch-Ehrat:

Was blieb mir von meinen Saulgauer Großeltern?

Als hätte Karoline es geahnt, dass ihre Enkelin Irmgard mehr als 60 Jahre nach ihrem Tod versucht, ihre Spuren lebendig zu machen! Ihr Leben lang hat meine Großmutter säuberlich alles gesammelt, was ihr wichtig erschien. Jetzt stand mir alles zur Verfügung: Geburts- und Heiratsurkunden, ihre eigenen Zeugnisse und die ihrer Kinder, der Meisterbrief des Vaters, Sportabzeichen und militärische Abzeichen der Söhne, Soldbuch und Wehrpass von Fritz, Fotografien und die vielen Feldpostbriefe. Mir fiel die Auswahl für diese kurze Lebensbeschreibung schwer!

Zu Beginn stand bei mir eher das Bemühen im Vordergrund, das umfangreiche Material zu sichern und zu dokumentieren, aber während der Aufarbeitung hat sich mein eigenes Gefühl für diese Zeit und für meine Vorfahren gewandelt. Viel verständnisvoller und viel liebevoller blicke ich heute darauf zurück.

Trotz der Fülle an Material und obwohl auch mein Vater Aufzeichnungen über seine Eltern hinterlassen hat, trauere ich deshalb der verpassten Gelegenheit nach, noch zu den Lebzeiten der Vorfahren viel mehr über diese schlimme Zeit erfragt zu haben.

Nur alte Geschichten? Lebhaftes Interesse bei meinen Enkelinnen!

Schon bei dreien meiner Enkelinnen, die eben im Alter zwischen 15 und 18 Jahren sind, haben meine Dokumentationen bereits unerwartet großes Interesse geweckt. Wo sie die ausführliche Behandlung der NS-Zeit im Unterricht eher abstrakt empfunden und wenig emotional absolviert hatten, bekamen die „alten Geschichten“ plötzlich Farbe und waren mit „Fleisch und Blut“ aus der direkten Verwandtschaft verbunden. Die 15-jährige Sarah entschloss sich, daraus eine lebendige eigene Präsentation im Geschichtsunterricht zusammenzustellen und hat freudig darüber berichtet: „Noch nie war meine Klasse so gespannt und konzentriert bei einer Präsentation dabei wie in diesem Fall!“


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